Veröffentlicht in „Exantas“ im Juni 2011

 

Die Studentenrevolte gegen die griechische Diktatur im Athener Polytechnikum vom 14. bis zum 17. November 1973 („Polytechnio“) ist die prägende Meistererzählung der griechischen Linke bis heute. Der Mythos, den sie erzeugt hat, hat aber längst ihre eigene Grenze überschritten. Die Heroisierung und Sakralisierung des Ereignisses hat einen Umfang erreicht, der insoweit jemanden bedenklich stimmen muss, als sich auf das „Polytechnio“ heute sowohl die Regierung als auch die Opposition, sowohl die Gewerkschaft der Polizei als auch die außerparlamentarische Protestbewegung bis hin zu den anarchistischen und terroristischen Gruppierungen berufen, was deutlich bei dem ritualisierten Jubiläum jedes Jahr im November wird. Das „Polytechnio“ erfüllt offensichtlich diffuse, nicht ganz saubere Legitimationsfunktionen in Griechenland heute. Ein Prozess der kritischen Annäherung an das Geschehen von damals – der nicht unbedingt zu einer totalen Umwertung und zu einer Demontage seiner Wahrnehmung und Vergegenwärtigung führen muss – hat bis heute noch nicht einmal ansatzweise stattgefunden. Dies könnte aber angebracht sein, wenn man nicht nur an den „antifaschistischen Geist“ vom November 1973, sondern auch an die sozial- und nationalpolitisch verheerenden Folgen der unmittelbar nächsten nach der „Polytechnio“ politischen Phase denken sollte. Insbesondere der Putz der Diktatur gegen Makarios, die militärische Invasion der Türkei auf Zypern (Juli und August 1974) und die dadurch bedingte gravierende Verschiebung der Parameter in den griechisch-türkischen Beziehungen bis heute stellen eine solche mittelbare, wenn auch keinesfalls von den Studenten gewollte Folge des „Polytechnio“ und noch eine Katastrophe in der neugriechischen Geschichte dar.

Bedürfte nach alledem das historische „Polytechnio“ selbst einer kritischen Überprüfung, gilt das um so mehr für die so genannte „Generation des Polytechnio“, nämlich für all diejenigen, die, ob an den Ereignissen vom November 1973 direkt beteiligt oder nicht, seine Botschaft damals empfangen haben oder konnten. Sie haben die Elite der Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft in den nächsten 35 Jahren abgegeben und Griechenland bis heute geführt. Das Ergebnis ist allerdings wenig schmeichelhaft: Diese „Generation“ hat nicht nur einen korrupten Staat und eine auseinander berstende Gesellschaft mit vielen hässlichen Seiten gezeugt, sondern heute, in der Zeit der extremen Schuldenkrise und des beinahen Staatsbankrotts, mittelbar oder unmittelbar das demokratische System selbst in Gefahr gebracht: Chaos, Gesetzlosigkeit und  Explosion des Gemeinwesens waren mehrere Male in der letzten Zeit in Griechenland durchaus möglich, ein Funke fehlte.

Wie konnte es so weit kommen? Die Botschaft des Aufstandes vom November 1973 ist von allen Seiten konsequent missachtet und pervertiert worden: Gegen die Diktatur, für die Demokratie, jedenfalls für eine Demokratie, die sich selbst achtet und ihres Namens würdig ist.

Demokratie, auf demselben Fleck der Erde geboren, ist ein sehr empfindliches, in Griechenland oft arg strapaziertes politisches Modell, das verschiedene sozio-ökonomische Systeme überlebt hat und hoffentlich (Sozialismus, Kapitalismus usw.) überleben wird. Sie artikuliert am deutlichsten den Wunsch der Völker nach Freiheit und Selbstbestimmung, Gleichheit und Gerechtigkeit, setzt aber gleichzeitig ein hohes Maß an Selbstdisziplin voraus. Derer wir Griechen uns nicht gerade rühmen können.