Veröffentlicht in „Exantas“ im Juni 2015

Hätte sich die Türkei gewagt, die völkerrechtlichen Verbrechen auf Zypern zu begehen, wenn sie wegen des Völkermordes an den Armeniern verurteilt worden wäre?

Ja, sie hätte! Denn ihr geopolitisches Interesse in Bezug auf Zypern war sehr groß und die Bedingungen der türkischen Invasion auf die Insel im Jahr 1974 extrem günstig: Die griechische Diktatur von Ioannides hatte der Regierung in Ankara mit dem Putsch gegen Makarios den lange gesuchten Vorwand geliefert, die Amerikaner standen auf ihrer Seite und gaben ihr Rückendeckung, die Sowjets übten sich in demonstrativer Zurückhaltung angesichts eines Streits, der unter zwei NATO-Partnern ausgetragen wurde, Griechenland selbst befand sich in einem desolaten Zustand aufgrund der inneren Zerrissenheit, weit und breit gab es keinen, der die wehrlose Insel hätte verteidigen können. Mit anderen Worten: Eine Verurteilung der Türkei 60 Jahre vorher wegen des Genozids an den Armeniern und (was damals schon und heute noch verschwiegen wird) den anderen christlichen Minderheiten des Osmanischen Reiches hätte das Land am Bosporus nicht verhindert, nach Zypern im Jahr 1974 einzumarschieren. Was die Türkei dort gemacht hat (Vertreibung der Griechisch-Zyprioten aus dem Norden der Insel, Errichtung eines separaten, „griechenfreien“ Staates dort, massive Veränderung seiner Bevölkerungskonsistenz durch Import aus Anatolien) stellt zwar nach der juristischen Definition schwerstes völkerrechtliches Verbrechen dar, ist jedoch kein „Genozid“ – auch wenn es gewisse frappierende Parallelitäten zu dem Vorgehen vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg gegen die christlichen Minderheiten des Osmanischen Reiches gab.

Es hat 100 Jahre bis zur angestrengten Anerkennung des Genozids an den Armeniern durch den deutschen Bundestag im Jahr 2015 gedauert. Die moralische Kraft reicht aber offensichtlich nicht aus und die deutschen außenpolitischen Interessen sprechen dagegen, die Türkei in Bezug auf das Vorgehen auf Zypern noch einmal zu reizen.