Veröffentlicht in „Exantas“ im Dezember 2016

 

Wir leben in einer neuen Epoche der Migrationsgeschichte, für die wir noch nicht den richtigen Namen gefunden haben. Das, was wir in den Jahren 2015/2016 als Flüchtlingswelle von Lesbos bis nach Stockholm erlebt haben, nämlich dass die europäischen Staaten die Macht über ihre Grenzen verloren haben und Europa insgesamt nolens volens weit mehr als über eine Million Flüchtlinge aufnehmen musste, legt sich seitdem wie eine tickende Bombe in die Fundamente der EU. Der Ruck nach rechts insgesamt, das Aufkommen rechtsextremer Parteien und die Renationalisierung der Mitgliedsstaaten sind nur Symptome des Aufbruchs dieser neuen Ära. Wie konnte es so weit kommen?

Die „Flüchtlingskrise“ hat sicherlich mehrere Ursachen, die einander bedingen. Den Hauptgrund sollte man aber in der Globalisierung suchen. Globalisierung bedeutet Entgrenzung. Entgrenzung entsteht hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen, als Expansion der Märkte, zieht aber Ausuferungen der menschlichen Beziehungen auf Weltebene in vielen anderen Bereichen nach sich. Es wäre merkwürdig, wenn die nationalen Grenzen überall sonst ihre Bedeutung verlieren, gegenüber den Flüchtlingen und Migranten aber unerschütterlich stehen und nicht wanken sollten. Im Zuge der Favorisierung von Entgrenzung hatte das juristisch-ideologische System Europas in der letzten Zeit immer mehr Signale ausgesendet, die man in den Ländern der Dritten Welt als Einladung zur ungehinderten Einreise in den alten Kontinent verstehen konnte.

Obwohl dies der allgemeine Rahmen ist, innerhalb dessen sich der „New Exodus“ entfalten konnte, reicht es nicht, um die konkreten Wanderungswellen und vor allem ihre Wucht zu erklären. Hier passiert noch etwas, was die Verhältnisse an den Rand des Absurden bringt, oder, aus einer anderen Warte betrachtet, an den Rand des Widerspruchs, den ein System produziert und an dem es zugrunde geht: Während die „pull“ und die „push“ Faktoren der Migration in unserer nahen geographischen Gegend, Nahost und Afrika, ohnehin schon seit langem im „roten Bereich“ sind, hat der Westen (USA, NATO, EU) durch seine kriegerische Intervention oder durch die Bürgerkriege, die er direkt oder indirekt mit der Hilfe seiner dortigen Verbündeten (Türkei, Saudi Arabien usw.) angezettelt hat, die Länder ruiniert, die gewisse Dämme darstellten, oder die zumindest zu einem geordneten Verlauf der Migrationsströme beitragen könnten. Sieht man genauer hin, erkennt man, dass diese Länder, angefangen mit Jugoslawien, ehemals „Blockfreie“ sind, die während des kalten Krieges eher der Sowjetunion zugeneigt waren. Der Sieger der Ost-West-Konfrontation hat es eilig, das Spiel zu beenden. Die Flüchtlingskrise erscheint nach alledem als das, was sie wirklich ist: Der Fluch der bösen Tat, der zurückkehrt.

Deswegen müsste das erste Postulat lauten, dass der Westen mit seiner skrupellosen „regime-change-Politik“ und mit der Destabilisierung der Länder der Dritten Welt durch kriegerische Intervention aufhört. Es gibt andere Möglichkeiten, als mit Krieg und Bürgerkrieg auf diese Länder einzuwirken. So könnten sie sich eher in Richtung Demokratie, politische Partizipation und Menschenrechte, also zu westlichen Werten hin, bewegen.

Aber was tun wir jetzt? Die Antworten, die ich gebe, bewegen sich auf drei Ebenen.

  1. Unser voriges Tun als Westen, auch wenn wir speziell mit dem Krieg nicht einverstanden waren, verpflichtet uns, die Verantwortung gegenüber den geflohenen Menschen zu übernehmen, deren Heimat wir zerstört haben, und sie gastfreundlich hier in Europa aufzunehmen und zu beherbergen. Es versteht sich am Rande, dass die Last gerecht zwischen allen verteilt werden sollte, die von den Vorteilen der EU profitieren.
  2. Es kann aber nicht sein, dass das erweiterte politische Asyl der Königsweg zur Lösung des Weltmigrationsproblems ist. In Europa gründete sich die Migrationspolitik immer, zumindest in Friedenszeiten, auf dem Recht der Arbeitsmigration und auf diese Basis sollte sie auch zurückkehren. Politisches Asyl war und ist eine unverzichtbare Institution und darüber hinaus eine wichtige Inspirationsquelle innerhalb des Systems der Aufnahme von Fremden, hatte aber und hat immer noch einen Ausnahmecharakter und seine ständige Erweiterung stößt nun an Grenzen.
  3. Dennoch ist die Karawane längst aufgebrochen und sie kehrt nicht mehr zurück. Die Kosten einer radikalen Abwehr sind hoch – man sollte sich keine Illusionen machen. Migration ist eine anthropologische Kategorie und die juristische Form, die sie annimmt, austauschbar. Wir sollen uns auf große Umwälzungen in unseren Gesellschaften vorbereiten – mit Verlierern und Gewinnern. Wie das alles ausgehen wird, können wir nicht sagen. Was wir allerdings können und müssen, ist die Augen offen zu halten, ob sich bei diesem Umbruch gewisse Chancen bieten, die Welt etwas gerechter zu gestalten.